Die Kinder- und Jugendhilfe befindet sich in ständiger Veränderung, sei es durch neue Herausforderungen in der Praxis oder der Verschiebung von finanziellen oder gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die sogenannte „Große Lösung“ – also das lang diskutierte und im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz dargelegte Bestreben, Hilfen und Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung (und für ihre Familien) inklusiv, ggf. sogar aus einer kommunalen Hand zu gewähren – stellt ohne Frage einen größeren Wandel dar.
Als einen „riesigen Berg, auf den wir alle schauen und der sich mit der Zeit und durch unsere weiteren Überlegungen und Aktivitäten noch vergrößert hat“ bezeichnete ihn Martin Albinus, Fachbereichsleiter Kinder, Jugend & Familie Braunschweig, zu Beginn unserer Veranstaltung “Kommune gestaltet!” am Dienstag, dem 12.12.2023. In der darauffolgenden halben Stunde gab unser Gast dann Einblick in den Braunschweiger Weg zur sogenannten „Großen Lösung“.
Ja sagen zum gemeinsamen Weg
Dieser Weg begann bereits 2015 mit der Entscheidung, sich in Richtung einer inklusiven Lösung zu bewegen. „Eine sehr, sehr, sehr lange Planungszeit mit Überlegungen, wie kann denn so eine (inklusive) Struktur aussehen – das kann ja auch eine Bremswirkung entfalten. Etwas anderes ist es, loszugehen und zu sagen: ja, eigentlich können wir morgen damit anfangen“ Viel Möglichkeit zur Entscheidung gewährten die landesgesetzlichen Rahmenbedingungen in Niedersachsen – mit viel Zuständigkeit auf kommunaler Ebene.
Als richtungsweisend für den Erfolg erwies sich allerdings vor allem das transparente und offene Vorgehen. So waren der personalverantwortliche Fachbereich als auch der örtliche Personalrat von Anfang an Teil der Projekt- und Lenkungsgremien. Auch die Träger der Eingliederungshilfe wurden zum frühstmöglichen Zeitpunkt einbezogen, und zwar einfach in die bestehenden Jugendhilfestrukturen der AG78. „Das hat erstaunlich gut funktioniert und befürchtete Erschütterungen oder Konkurrenzdruck sind weitgehend ausgeblieben. Stattdessen führen wir dort mit den Trägern sehr interessante fachliche Diskussionen“
Die große Lösung in Braunschweig ist kollaborativ und prozessorientiert
Grundlegend für das Braunschweiger Modell der „großen Lösung“ ist aber vor allem die weitere Entscheidung dafür, den notwendigen Wandel als eine bewusste Transformation der Arbeitsstrukturen und ‑kultur zu gestalten, statt ihn bloß als Zuständigkeitstransfers zwischen Sozial- und Jugendamt zu begreifen. Auf Grundlage der Prognose, dass damit wiederum eine neue Schnittstellenproblematik (Planung Erwachsene und Teilhabe) an anderer Stelle entstände, entschied sich die Lenkungsgruppe in Braunschweig für die Fortführung beider Fachbereiche in einem kollaborativen Tandemmodell.
Jeweils eine Sozialarbeiter:in aus dem Jugendamt und eine Verwaltungskraft aus dem Sozialamt arbeiten nun mit unterschiedlichen Aufgabenschwerpunkten, aber an gemeinsamen Prozessen der Eingliederung, Beratung und Unterstützung. Während die Sozialarbeiter:in vor allem als direkte (Ansprech)Partner:in für Prozesse mit den Familien zur Verfügung steht, bearbeitet die Verwaltungskraft die für ein Gelingen ebenso notwendigen Verfahren im Hintergrund. Als ein Leitprinzip dieser (Um)Gestaltung von Arbeitsstrukturen in Bezug auf die Nutzer:innen lässt sich festhalten: One face for all, also ein Gesicht für alle. Sobald in einem Fall Anspruch über die Eingliederung vorliegt, wandert er in die multiperspektivischen Tandems der Eingliederungshilfe. Die Mitarbeitenden dort bearbeiten dann in Absprache mit den Fachdiensten auch weitere Leistungen, z.B. zu den Hilfen zur Erziehung.
Kann eine solch anspruchsvolle Arbeit in multiperspektivischen Teams gelingen? „Wir waren uns ehrlich nicht ganz sicher: Schaffen die Kolleg:innen das?“ Letztendlich war durchaus noch einiges an Einarbeitung, Schulungen und vor allem an gemeinsam verbrachter Zeit notwendig, auch um anfängliche Berührungsängste beider Berufsgruppen abzubauen. Aber es hat sich gelohnt: Gerade mit der Eingliederungshilfe tut sich ein komplexes und anspruchsvolles Feld auf, z. B. in Fragen der Zuständigkeit oder der Einbindung der Rehaträger. Die multiprofessionellen Teams haben sich dafür als angemessene Lösung präsentiert. Die notwendigen Ressourcen werden anhand der zu bearbeitenden Prozesse der Tandems bemessen. Und weitere Fachkräfte, ‑perspektiven und Expert:innen können nach Bedarf hinzugezogen werden – sie sind fast immer ganz in der Nähe!
Eine Anlaufstelle für Familien: das Haus der Eingliederungshilfe
Und das auch, da die beiden kollaborativ miteinander verbundenen Eingliederungsabteilungen seit April 2021 gemeinsam mit weiteren Fachdiensten, u.a. dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst, in einem „Haus der Eingliederungshilfe“ angesiedelt sind. Hier finden Kinder, Jugendliche und Familien ihre Ansprechpersonen und Begleiter:innen, die je nach eigenem Alter und Zuständigkeit oft nur einen Flur voneinander entfernt sind. Bei der Auswahl des Gebäudes mussten sich die Teams allerdings recht schnell von den persönlichen Ansprüchen eines baulich idealen und inklusiven Raumes verabschieden. Die Nutzer:innen finden es jedoch angemessen, ein „normales Verwaltungsgebäude“ zu nutzen, wie alle anderen auch. Die Inklusionsorientierung zeigt sich vor allem in der Achtsamkeit und Bereitschaft der Mitarbeitenden dafür, die vorhandenen Schwellen in der Praxis zu bearbeiten. So gibt es ein Spielzimmer, mehrere Konsultationszimmer und „die Klienten können wir auch eine Zeit lang am Eingang abholen, bis sie sich an das Gebäude gewöhnt haben.“ Schnittstellenkomplikationen bearbeiten die Mitarbeitenden im Rahmen von fünf Sozialraumteams oder in fallabhängigen Konsultationen.
Es gibt noch einiges zu tun und nicht immer läuft alles schon rund. So wird derzeit etwa per Ausschreibung nach eine:r Entwickler:in für Software gesucht, in der die integrierte Bearbeitung und Dokumentation von Prozessen aus beiden Rechtskreisen möglich und übertragbar ist. Außerdem muss ein guter Einsatzzweck für die/den ab kommenden Jahr einzustellende:n Verfahrenslotse:in gefunden werden. „Für die Kommunikation Richtung Bürger:in brauchen wir die Stelle durch unsere multiprofessionellen Teams jedenfalls nicht mehr, da sind wir zu weit im Prozess“ meint Martin Albinus und verweist damit auch auf die ursprüngliche Funktion der Lots:innen, Übergänge kommunikativ zu begleiten. Ein zusätzlich struktureller Blick, z.B. auf das Miteinander der Träger, die baulichen Rahmenbedingungen und städtebauliche Aspekte hingegen wäre auf dem Braunschweiger Weg eher benötigt. Denn das nächste inklusive Vorhaben ist schon in Sicht: ein von Trägern der Jugendhilfe und Eingliederungshilfe gemeinsam verantwortetes inklusives Betreuungsangebot für Kinder verschiedenster Altersgruppen bis 18 Jahre – in drei Wohngruppen und selbstverständlich in einem Haus.