Aus der Kindheitsarmutsprävention ist bekannt: Ungleiche Kindheiten sind strukturell verursacht und in der Kommune verräumlicht. Gleichzeitig bieten Kommunen Möglichkeiten dafür, lebens- und alltagsweltlichen Folgen von Benachteiligung frühzeitig entgegenzuwirken. Ein wichtiges Hilfsmittel dafür sind sogenannte Präventionsketten. Wir sprachen mit Dr. Heike Schaarschmidt vom Programm Thüringer Präventionsketten des IKPE darüber, wie netzwerkübergreifende Zusammenarbeit aufgesetzt sein sollte, damit das volle Potential von Präventionsketten ausgeschöpft werden kann.
Was sind Präventionsketten?
Präventionsketten sind ein niedrigschwellig nutzbares Gemeingut. Sie gehören zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Kommunale Präventionsketten bilden eine institutionelle Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und ihre Familien entlang der biografischen Lebens- und Entwicklungsphasen von der Geburt bis zum Berufsleben. Ihre Zielstellung: ein chancengerechtes Aufwachsen im Wohlergehen und langfristig eine Chance auf ein selbst bestimmtes Leben bieten.
Damit Präventionsketten erfolgreich wirken, braucht es ressortübergreifende Netzwerke. Einzelne wirksame Maßnahmen ergeben nicht automatisch ein wirksames Unterstützungssystem. Dafür braucht es eine kommunale Verwaltung, freie Träger und politische Akteure, die kooperativ und integriert zusammenarbeiten.
Frau Dr. Schaarschmidt, wie schauen Sie auf Präventionsketten?
Wir beim IKPE verstehen Präventionsketten als Netzwerke für gelingendes Aufwachsen von Kindern in Kommunen. Im Mittelpunkt unseres Programms Thüringer Präventionsketten stehen Vernetzung und Kooperation. Ein großer Fokus unserer Arbeit liegt deshalb auf übergreifender Zusammenarbeit, also dem Zusammenwirken aller relevanten Ämter und Akteur:innen. Die Leitfrage unseres Programms lautet: Wie gestalten wir gemeinsam eine wirkungsvolle Unterstützung, die allen Kindern ein gelingendes Aufwachsen ermöglicht?
Daraus ergeben sich zwei konkrete Leitthemen: Das ist zum einen Beteiligung. Was ist die Perspektive der Kinder und Familien? Welche Bedarfe haben sie selbst? Zum anderen ist es das Thema Wirkung. Was kommt bei den Familien tatsächlich an? Wie wirken bestehende Angebote?
Diese Reflektion erfolgt aber unabhängig von der einzelnen Maßnahmenebene. Mit anderen Worten: Wir schauen auf die Netzwerkarbeit, und indirekt auf die Maßnahmen. In den Präventionsnetzwerken geht es darum, eine veränderte Haltung und eine Kultur der Zusammenarbeit zu schaffen.
Veränderungen in Haltung und Arbeitskultur – das sind große Themen. Wie gehen Sie da vor?
Wir glauben, dass es für erfolgreiche Netzwerkarbeit zunächst eine entsprechende Organisationsstruktur braucht. Sie muss unseres Erachtens auf drei Handlungsebenen wirksam sein. Das lässt sich durch drei Gruppen darstellen: eine Steuerungsgruppe, eine Planungsgruppe und Facharbeitsgruppen an der Basis.
Welche Aufgaben und Rollen haben diese Gruppen?
Die Steuerungsgruppe bringt die kommunalpolitischen und strategischen Entscheidungsvertreter:innen an einen Tisch: die Führungsspitze aus der Verwaltung, Vertreter:innen des Jugendhilfeausschusses, des Sozialausschusses und Geschäftsführer:innen von Wohlfahrtsverbänden. Auf dieser Ebene treffen sie Entscheidungen über Strategien, Ressourcen und Pläne. Hier wird der Weg für eine Finanzierungsebene schon vorbereitet.
Die Planungsgruppe wird gerne auch als Kernteam bezeichnet. Verwaltungsinterne Planer:innen werden darin auf taktischer und konzeptioneller Ebene aktiv. Hier wird Wissen aufbereitet und interpretiert. Anschließend kann die Gruppe konkrete Bedarfe daraus ableiten. Und auf dieser Ebene sind in den Thüringer Kommunen oft auch schon ämterübergreifende Planungsgruppen installiert.
Und dann gibt es die Fachgruppen auf der operativen Ebene. Darunter sind Sozialraumgruppen oder thematische Netzwerke zu verstehen. Zentrales Thema dieser Gruppen sind die operative Planung, z.B. in Form von Bedarfserhebungen, Beteiligungsprozessen von Familien und Umsetzung von Maßnahmen.
Es gibt ja so schon einiges an Gremienarbeit und Arbeitsgruppen etc., an denen Mitarbeitende teilnehmen sollen und wollen. Wie schafft man es, dass die relevanten Personen auch Teil dieser Gruppen werden? Und vor allem: Wie erreicht man die von Ihnen zuvor angesprochene Änderung von Haltung und Kultur in Bezug auf Zusammenarbeit?
Generell ist es die Aufgabe der Kommunen, diese Gruppen einzuberufen. Aber ja, danach werden wir oft gefragt. Nun ist es so, dass die Akteure an Projektstrukturen gewöhnt sind und darin bereits organisiert sind. Es besteht die Gefahr, dass ein gewisser Überdruss entsteht.
Unsere Empfehlung ist es, ganz zu Beginn, bevor die Netzwerke überhaupt wirklich arbeiten, erst einmal die Frage nach dem Sinn zu stellen: Warum sitzen wir hier? Was wollen wir verändern? Wo sehen wir Bedarfe? Welchen Beitrag können die einzelnen Akteure dazu leisten?
All das sind Fragen, die sich alle Kommunen schon gestellt haben. In den nächsten drei Jahren soll diesen Fragestellungen weiter nachgegangen werden. Schlussendlich sind dies die Themen, die die Qualität der Zusammenarbeit in den Blick nehmen – und potentiell verändern.
Nichts Geringeres als die Beantwortung der Sinnfrage also? Auch das ist kein leichtes Unterfangen…
Absolut! Aber auf diese Weise tauchen konkrete Fragen bei den einzelnen Vertreter:innen auf: Was ist mein Part dabei? Warum gehe ich hierhin? Welchen Sinn verknüpfe ich damit? So entwickelt sich ein emotionaler Einstieg. Dadurch wird den Vertreter:innen deutlich, was sie ganz konkret und individuell beitragen können.
Diese Sinnfrage muss deshalb vor jeder Netzwerkgründung beantwortet werden. Und auch unabhängig davon, ob es ein Netzwerk ist, welches schon besteht, wieder reaktiviert oder stärker belebt werden soll: Diese Fragen sollten sie sich immer stellen und dazu einen gemeinsamen Konsens finden.
Seit September 2022 gibt es das Programm der Thüringer Präventionsketten. Wie trägt das Programm Thüringer Präventionsketten zur Vernetzung und Kooperation in Kommunen bei?
In Thüringen gibt es in vielen Kommunen bereits integrierte Sozialplanung. Wir bauen auf den daraus entstandenen, also bereits existierenden Netzwerken auf und regen dazu an, zu fragen: Hat das kommunale Netzwerk eine effektive Struktur? Im Rahmen von Netzwerkanalysen prüfen die Kommunen: Gibt es Arbeitsstrukturen, die an den drei beschriebenen Handlungsebenen – die im bestehenden Fachdiskurs zu Präventionsketten als wichtige Erfolgsfaktoren identifiziert sind – ansetzen? Wir unterstützen sie bei der fachlichen Reflektion zu diesen Fragen. Bereits jetzt zeigt sich, dass das zu Aha-Momenten bei den Kommunen führt.
Auf diese Fragen haben die Mitarbeitenden in den Kommunen sicherlich viele und auch unterschiedliche Antworten. Empfehlen Sie ihnen bestimmte Werkzeuge oder Methoden, um zu diesen Aha-Momenten zu gelangen?
Für Netzwerkanalysen empfehlen wir das Bubble-Tool. Das Bubble-Tool ist ein Instrument, das vom Institut für soziale Arbeit e.V. (ISA) in Nordrhein-Westfalen entwickelt wurde. Die Arbeit mit Hilfe des Bubble-Tools schärft das analytische Verständnis anhand folgender Fragen: Auf welchen Handlungsebenen muss das Netzwerk aktiv sein? Das heißt, welche Akteur:innen sind jeweils von Bedeutung? Welche Aufgaben sind konkret damit verbunden und wie müssen sie zusammenwirken?
Und Präventionsketten bieten Kontexte, in denen diese Fragen gestellt werden können?
Richtig! Wir glauben: Das Programm Thüringer Präventionsketten ermöglicht die Reflektion von Strukturen im Kontext von Zusammenarbeit und Kooperation.
Kommunen stehen vor den Fragen: Sind wir auf allen drei Handlungsebenen aktiv? Und wie wirken die drei Ebenen zusammen? Präventionsketten schärfen den Blick auf die eingangs bereits erwähnten Fragen rund um Beteiligung und Wirkung: Was brauchen Kinder und Familien? Was kommt wirklich an? Und wie kann mit einer sozialen Infrastruktur unterstützend darauf geantwortet werden?
Es geht also vor allem darum, bestehende Strukturen zu nutzen und zu verbessern. Wo es sie noch nicht gibt, bietet Ihr Programm Inspiration und gute Gründe dafür, sie zu schaffen. Was wünschen Sie sich darüber hinaus für die Zukunft? Welche Pläne gibt es innerhalb des Programms?
Im Rahmen der Thüringer Präventionsketten wollen wir nicht nur präventiv gestaltende Ansätze in den Kommunen stärken. Auch die integrierte Gestaltung von Förderprogrammen muss vorangetrieben werden, so dass eine wirksame kommunale Gesamtstrategie entsteht. Diese sollte auf integrierter Planung, integriertem Monitoring und integriertem Nutzen von Förderprogrammen fußen.
Das heißt also: Spezielle Förderlogiken sollten das kommunale Handeln nicht mehr einschränken. Stattdessen muss auch hier ein Umdenken angestoßen werden. Zuständigkeitsübergreifendes Handeln sollte sich in der Ausgestaltung von Förderprogrammen wiederfinden. So eröffnen sie den Kommunen nicht nur eine integrierte Nutzung, sondern bestärken sie auch darin.
Das ist nicht nur eine Vision. Das schafft auch einen Mehrwert, der über die direkte Steuerung von Unterstützungsangeboten für Kinder und Familien in den Kommunen hinausgeht. Das ist der Anspruch, den wir in Thüringen voranbringen wollen.
Dr. Heike Schaarschmidt ist die Programmleiterin des Programms Thüringer Präventionsketten am Institut für Kommunale Planung und Entwicklung e.V. (IKPE) in Erfurt. Gemeinsam bieten sie und ihr Team den Kommunen Beratung, Fortbildung und Vernetzung rund um diese benötigte ressortübergreifende Netzwerkarbeit. Das Programm der Thüringer Präventionsketten startete im Herbst 2022. Das IKPE entwickelte das Programm gemeinsam mit der Auridis-Stiftung und dem Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie.
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[…] Klärung der Sinnfrage ist für erfolgreiche Netzwerke essentiell!” – Interview mit Dr. Heike Schaarschmidt im Newsletter Kommune 360° vom […]