Im Rahmen mehrerer Fachtreffen und Workshops erarbeitete ein Kreis von Expert:innen aus 12 verschiedenen Institutionen das Impulspapier „Präventionsketten wirken“, mit dabei das Institut für soziale Arbeit (ISA), das Ministerium für Arbeit, Gesundheit, Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen und wir, die Initiative Kommune 360°. Gemeinsam sind wir davon überzeugt: Präventionsketten wirken! Allerdings müssen Erwartungen und Herangehensweisen an die Weiterentwicklung und Nachweisbarkeit der Wirksamkeit von Unterstützungssystem für Kinder und Familien überdacht werden.
Das Impulspapier richtet sich nicht nur an Entscheider:innen in Kommunen. Es ist für all jene relevant, die sich für die Gestaltung wirksamer Unterstützungssysteme für Kinder und Familien interessieren. Wir als Initiative Kommune 360° stellen uns die Frage: Wie kann der Ansatz der Wirkungsorientierung dabei helfen? In diesem Blogartikel greifen wir sechs Empfehlungen aus dem Impulspapier auf, die bei der Beantwortung dieser Frage helfen.
1. Machen Sie sich bewusst: Wirksamkeit sieht für verschiedene Akteure unterschiedlich aus.
Der Begriff Wirkung wird in Bezug auf kommunale Präventionsketten gerne und oft benutzt. Was aber bedeutet Wirkung, wenn unterschiedliche Benachteiligungslagen gleichzeitig und durch eine Vielzahl an Maßnahmen bekämpft werden sollen? Verschiedene Akteure stehen sich mit unterschiedlichen und gleichermaßen berechtigten Bedarfen und Einschätzungen gegenüber. Politische Akteure wollen und müssen sich und ihre Entscheidungen rechtfertigen. Sie und die Verwaltung sind außerdem dazu angehalten, mit öffentlichen Mitteln und Ressourcen sorgsam umzugehen. Doch gleichzeitig ist der Ruf der Fachpraktiker:innen laut, einfache Ursache-Wirkung-Logiken zu hinterfragen und Investitionsentscheidungen nicht rein zahlenbasiert zu treffen. Zwischen verschiedensten Ansprüchen und der Realität werden die umsetzenden Personen zerrieben.
Es hilft, sich diesen Konflikt bewusst zu machen. Was es braucht, ist eine gemeinsam getragene Herangehensweise dafür, wie die Wirksamkeit des Unterstützungssystems für Kinder und Familien überprüft und weiterentwickelt werden kann. Mögliche Leitfragen dafür lauten: Wie können Ressourcen für ein wirksames System sichergestellt werden? Aber auch: Wie kann die Wirksamkeit des Systems bei entsprechendem Ressourceneinsatz stetig fortentwickelt werden?
2. Vermeiden Sie vorschnelle Rückschlüsse: In komplexen Systemen gibt es keine einfache Ursache-Wirkung-Verknüpfung!
Wir empfehlen die Etablierung eines Wirkungsdialogs zwischen Politik und Fachpraxis, der auf folgenden fünf Grundannahmen basiert:
Kausalität:
Es gibt viele Faktoren, die positive Veränderungen für Kinder und ihre Lebenslagen bedingen und die Entwicklung hin zu einer kinderfreundlichen Kommune beeinflussen. In den seltensten Fällen lassen sich Wirkungen linear auf einzelne Präventionsangebote zurückführen.
IST/SOLL-Abgleich:
Ein Vergleich der Wirkungsannahmen vor der Intervention mit relevanten Veränderungen im Gegenstandsbereich während bzw. nach der Intervention kann empirisch plausible Wirkungsabschätzungen ermöglichen. Dafür muss dieser Abgleich hinreichend kleinschrittig sein und unbedingt auch qualitativ strukturierte Einschätzungen von Fachkräften und Adressat:innen beinhalten.
Strategiebezug:
Präventionsketten entfalten ihr Potential erst dann vollständig, wenn sie in eine kommunale Gesamtstrategie eingebettet sind. Sie zielen auf ein gemeinsames Wirken von Maßnahmen und Angeboten ab, die an mehrere Bedarfslagen zugleich ansetzen. In einem wirksamen Gesamtsystem entfaltet sich ein Wirkungspotential, das über die Summe der einzelnen Maßnahmen hinaus geht.
Passgenauigkeit:
Präventionsketten sind einzigartige, lokale Maßnahmenbündel, die sich an subjekt‑, lebenslagen‑, sozialraum- und einrichtungsspezifischen Bedarfen ausrichten. Sowohl in der Planung von Maßnahmen als auch in der Abschätzung ihrer Wirkungen ist ein standardisiertes Vorgehen, das sich lediglich an statistischen Vergleichsmaßen und „Rezeptbüchern“ orientiert, fehl am Platz.
Subjektperspektive:
Die Ausgestaltung von Präventionsketten und ihr Wirkungspotential sind in höchstem Maße abhängig von den Fachkräften und den Adressat:innen selbst. Statistische Kennziffern in der Planung und Abschätzung von Wirkungen sollten so früh wie möglich um die Perspektive der Fachkräfte und Adressat:innen ergänzt werden. Ko-Produktion ist hier das Stichwort.
3. Verfolgen Sie einen investiven Ansatz: Wer Lücken sieht, sollte sie schließen!
Präventionsketten sind nicht dazu da, öffentliche Haushalte zu entlasten. Entscheider:innen müssen dazu bereit sein, Ressourcen passgenau einzusetzen, ohne dabei von Präventionsrenditen auszugehen. Wer Bedarfe ermittelt, wird sensibel für bestimmte Themen. Erfahrungsgemäß führt das häufig dazu, dass weitere Bedarfe erkannt werden. Dafür sollten zusätzliche Mittel eingeplant werden, damit die Erfolge der übrigen Maßnahmenbündel nicht gefährdet werden (s. Strategiebezug).
4.Etablieren Sie eine neue Dialog- und Fehlerkultur: Lernen im Dialog!
Wer Präventionsketten aktiv weiterentwickelt, wird Erfolge feiern, aber auch Fehler eingestehen müssen. Stetige Anpassungsbedarfe bleiben im dynamischen Umfeld jedoch sowieso nie aus. Damit das volle Potential kommunaler Präventionsketten ausgeschöpft werden kann, braucht es eine kontinuierliche, wirkungsorientierte Weiterentwicklung. Dafür sollten regelmäßige Wirkungsdialoge zwischen Adressat:innen, Fachpraxis und Entscheider:innen etabliert werden, die Raum dafür schaffen, sowohl aus Erfolgen als auch aus Fehlern zu lernen. Misserfolge sind Teil der Präventionsarbeit und wie überall im Leben nicht zu vermeiden. Wichtig ist, sie konstruktiv für’s Lernen zu nutzen – ohne Scham und Furcht vor Sanktionierung oder Mittelkürzungen.
5. Zusammen wirken: Schaffen Sie ein starkes Netzwerk, dass gemeinsam Verantwortung übernimmt!
Bereichs- und trägerübergreifende Vernetzung ist im Rahmen kommunaler Präventionsketten unerlässlich – erst dann werden Synergien nutzbar und Maßnahmen können aufeinander abgestimmt wirken. Doch wirksame Vernetzungsstrukturen und kokonstruktives Zusammenwirken zu etablieren ist leichter gesagt als getan. Dafür brauchen die relevanten Akteure zum einen verbindliche Strukturen und Prozesse, die möglichst wenig Zusätzliches erfordern und an bereits Bestehendes anknüpfen.
Zum anderen braucht es ein weiterführendes Selbstverständnis von Netzwerken: Weg von einer Gruppe an Einzelakteuren hin zu einer gelebten Verantwortungsgemeinschaft! Als solche sollten sie nicht nur gemeinsame Ziele verfolgen, sondern auch produktiv mit Spannungsverhältnissen und Konfliktpotentialen arbeiten. Das setzt voraus, dass Akteure den Umgang mit unterschiedlichen Handlungslogiken, Prioritäten, fachlichen Einschätzungen usw. lernen, um dann gemeinsame Lösungen erarbeiten zu können.
6. Ohne Rahmen keine Stabilität: Erweitern Sie Ihr Verständnis von Wirkung!
Es schwingt in dem ein oder anderen Punkt schon mit: Wer Präventionsketten konzipiert, umsetzt oder evaluiert, darf das System dahinter nicht übersehen. Denn damit Maßnahmen alleine und im Zusammenspiel wirken, braucht es ein wirksames Gesamtsystem, in das sie eingebettet sind. Bei der Gestaltung von Präventionsketten geht es deshalb nicht nur um die Entwicklung von wirksamen Maßnahmen, sondern vielmehr um Strukturentwicklung.
Deshalb sind der Aufbau akteursübergreifender Strukturen und Prozesse, Wissen, und die Entwicklung einer koproduktiven Arbeitskultur konkrete, bedeutende Wirkungserfolge. Diese gesamtkommunale Struktur- und Strategieentwicklung steht keinesfalls im Gegensatz zu dem Wunsch danach, dass „mehr“ bei den Kindern, Jugendlichen und Familien ankommt. Ganz im Gegenteil: Ohne diesen stabilen Rahmen, der von kommunalen Entscheider:innen geschaffen werden muss, können Präventionsketten ihr volles Potential nicht entfalten.
Mehr Informationen zu diesen und weiteren Empfehlungen finden Sie im Impulspapier “Präventionsketten wirken!”.
Über das Impulspapier und seine Autor:innen
Im NRW-Konsultationsgespräch „Kommunale Netzwerke der Prävention“ beraten Vertreter:innen überörtlicher Programmträger seit 2012, wie der Auf- und Ausbau von kommunalen Präventionsnetzwerken unterstützt und Parallelstrukturen vermieden werden können. Das vorliegende Impulspapier wurde 2021 und 2022 im Rahmen mehrerer Fachtreffen und Workshops beraten und entwickelt, zu denen zudem ausgewählte Vertreter*innen weiterer Institutionen eingeladen wurden. An dem Prozess beteiligt waren:
Deutsche Kinder- und Jugendstiftung
Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Institut für soziale Arbeit,
Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.
LVR-Landesjugendamt Rheinland
LWL-Landesjugendamt Westfalen
Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen
Nationales Zentrum Frühe Hilfen
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Die Texterstellung erfolgte in einer Redaktionsgruppe, bestehend aus: Stephanie Bremstahler, Markus Büchel, Prof. Dr. Claudia Buschhorn, Eva-Maria Frühling, Nittaya Fuchs, Till Hoffmann, Marie Holmgaard, Dr. Axel Iseke, Alexander Mavroudis, Dr. Antje Richter-Kornweitz, Esther Scheurle, Dr. Heinz-Jürgen Stolz