Erkenntnisse und Gedanken zum Workshop über die Wirkung von Narrativen mit Sebastian Jarzebski von neues handeln auf dem 360° Festival für innovative Planung. Eine Erzählung.
Der Ausspruch “Oh, jetzt habe ich auch noch die Zeit anthropomorphisiert” gehört zu den gleichsam seltsamsten, schönsten und auf gewisse Weise anmaßendsten Aussagen, die ich in jüngerer Vergangenheit hören durfte. Doch Schritt für Schritt: was war geschehen? Warum hat Referent Sebastian Jarzebski der Zeit das angetan? Dazu später mehr!
Der Workshop startete unaufgeregt, geradezu schnörkellos. Mit “Mir sind die Hände gebunden…” war ein Titel gefunden, den Sebastian Jarzebski auf unnachahmlich eloquente Weise dafür zu nutzen wusste in das Thema des Tages einzuführen: Narrative. Kleine Erzählungen, die aus einem Dreiklang aus Metapher (Bildsprache im Allgemeinen), Rolle (Etwas, was durch das Narrativ in ein Handeln versetzt wird) und Konfiguration (was bedeutet das also für mich) bestehen und unser Bild der Welt prägen. Denn, und das sei an der Stelle betont, wir alle sind Geschichtenerzähler und (er)schaffen durch unsere Erzählungen ein Stück weit auch unsere Realität.
Bleiben wir noch kurz beim Titel: “Mir sind die Hände gebunden…”. Die Metapher ist schnell gefunden, denn die Hände sind ja nur sprichwörtlich verbunden – ein Bild also. Die Rolle ist schwieriger: Die Hände sind offensichtlich gebunden worden, doch von wem? Und wie? Die Konfiguration ihrerseits lässt viel Spielraum zu: Heißt das, die Person kann nicht helfen auf Grund von…tja “Sachzwängen” oder einer “anderen Person”? Narrative, das wird deutlich, lassen Interpretationsspielraum. Und das wiederum ist Fluch und Segen zugleich. Narrative können so vermeintlich eindeutig und zugängig sein, dass alle, die es hören, zustimmend nicken: “Dann ist aber Holland in Not” – “Ja”, “absolut”. Zwischen den Gesprächspersonen herrscht wohlige Einigkeit. Ein Fluch, denn wer oder was “Holland” in diesem Kontext ist und was genau, denn “Not” jetzt bedeutet, ist möglicherweise für alle am Gespräch beteiligten etwas völlig anderes. Ein Segen ist es dann, wenn der nächste Schritt getan wird und genau das aufgeklärt wird. Denn eigentlich sind Narrative eine Einladung zu verständigungsorientiertem Handeln, sagt Sebastian Jarzebski: In dem ich frage, “Was heißt denn Holland” und “wie groß ist die Not” kann ich einem unbestimmt formulierten Problem auf den Grund gehen.
Kurzum: Narrative sind kleine Geschichtchen und Gesprächseinladungen, welche uns überall begegnen, welche unsere Realität mitgestalten, und welche häufig unbewusst an uns vorbeihuschen.
Welche Erzählungen oder prägnante Sätze fallen Ihnen ein, die Sie sich häufiger sagen hören oder die andere zu Ihnen sagen?
Genau dieser Frage durften sich die Teilnehmenden widmen. Sie sollten nun ihrerseits Narrative aus ihrem Arbeits-Alltag finden (denn: Narrative werden gefunden, nicht gemacht) und miteinander besprechen. Herausgekommen ist eine stattliche Zahl von Alltagsnarrativen, die am Ende des Beitrags ungefiltert zu lesen sein werden. Näher betrachtet werden soll das bayrische “mia san mia”-Narrativ: kaum etwas eint die Bayern mehr. Urplötzlich macht es sogar kaum einen Unterschied mehr ob Franke, Nieder- oder Oberbayer. Mia san definitiv mia. Ganz anders sah es aus, als jemand aus Nordrhein-Westfalen fragte, ob er denn eigentlich auch “mia san mia” sein könne. Die Antwort aus Bayern war ebenso entschuldigend wie eindeutig: “nein”. Hoppla. Ein einendes Narrativ hat offensichtlich auch ausgrenzende Wirkung. Entsprechend ratsam ist es, ein gefundenes Narrativ auch dahingehend zu hinterfragen: “Wer könnte sich durch das Narrativ ausgegrenzt fühlen?” Achten Sie mal darauf, welche kleinen Geschichten Sie umgeben. Erkennen Sie sich beispielsweise hier wieder: Das Bild der staubigen, altbackenen, reformunfähigen, das-haben-wir-aber-immer-schon-so-gemacht Verwaltung/Organisation, welches immer wieder hervorgezaubert wird, dabei arbeiten Sie und ihr Team sehr flexibel, lösungsorientiert und mit geöffneten Türen?
Ein Teilnehmer hat es schließlich auf den Punkt gebracht: “Wir [Mitarbeitenden] bestimmen ja auch wie wir die Geschichte [der Verwaltung / unserer Arbeit] erzählen. Wir sollten anfangen uns selbst bei dem zu hinterfragen was und wie wir es erzählen.” Und in diesem Satz steckt so viel Hoffnungsfrohes!
Es ist Zeit, dass wir neue Narrative finden, dass wir die alten über Bord werfen, die Kruste abnehmen und das inspirierende, das gestalterische und sinnstiftende der Verwaltungsarbeit wieder in Vordergrund stellen. Ab heute: Dienst nach Fortschritt!
Der Workshop war außerordentlich kurzweilig, die Diskussionen offen, inspirierend und lustig. Und wie immer in einem guten Workshop: Es war viel zu wenig Zeit. Doch nicht nur das: “Sie ist auch noch gerast” – das letzte Narrativ des Tages, bei dem die Zeit in ein Wesen verwandelt wurde, was sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten fortbewegen kann. Mit anderen Worten: Die Zeit wurde anthropomorphisiert…
Lesen Sie hier die ungeschminkte Narrativsammlung und machen Sie sich auf den Weg ihre eigenen zu finden. Augen auf! Mit Überraschungen ist zu rechnen:
Mein Schreibtisch ist voll
Das haben wir schon immer so gemacht
Wir sind doch Sozialarbeiter (i.S.v. vielseitig einsetzbar/ Exotenstatus)
Wir retten keine Leben // Wir operieren nicht am offenen Herzen
Mit denen ist die Zusammenarbeit total schwierig
Wir werden nicht gesehen
Hier ist gerade Land unter / Polen ist offen / Holland in Not
Wir arbeiten an der Revolution (der Verwaltung)
Achtung, das könnte morgen in der Bildzeitung stehen
Das nehme ich jetzt mal mit
Mia san mia