Ein wichtiger Bestandteil integrierter Jugendhilfeplanung ist für uns die Beteiligung der Adressat:innen. Dabei stellen wir uns die Frage, wie genau Kinder- und Jugendbeteiligung gelingen kann. Wie können Kommunen von der Beteiligung profitieren? Welche Änderungen in der kommunalen Haltung und Kultur braucht es womöglich? Auf der Suche nach Antworten sind Einblicke in die Praxis unentbehrlich. Diese gewährte uns das Team von Youth Lead the Change Germany in einem Interview:
Wer ist Youth Lead the Change und was genau macht ihr?
Wir sind ein Team von über 10 jungen Menschen aus ganz Deutschland und setzen uns mit Youth Lead the Change für tiefgreifende Jugendbeteiligung ein. Ziel ist es, einen kommunalen Jugendhaushalt zu etablieren, der es allen Jugendlichen der Stadt ermöglicht, sich an der Gestaltung der Stadt zu beteiligen.
Mit welchem Konzept wendet ihr euch an Kommunen?
Unser Konzept ist simpel: Jugendliche einer Stadt erhalten ein bestimmtes Budget, über dessen Verwendung sie gemeinsam und demokratisch abstimmen können. Umgesetzt werden ihre eigenen Projekte zur Stadtgestaltung. Dies ist inspiriert durch ein Projekt aus Boston (USA), wo Youth Lead the Change seit 2014 erfolgreich umgesetzt wird. 2019 lernten wir die beteiligten Jugendlichen vor Ort kennen und waren direkt begeistert. Nun wollen wir dieses erprobte Best-Practice-Projekt nach Deutschland bringen. Dafür passten wir das Konzept an die deutschen Verhältnisse an und erweiterten es beispielsweise durch die Einbindung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Nun unterstützen wir Kommunen dabei, einen Jugendhaushalt in Verbindung mit ihren bestehenden Strukturen aufzubauen und bei sich erfolgreich umzusetzen. Für die Stadt bietet es den Vorteil, dass sie auf ein fertiges Konzept zurück greifen kann und wir sie sowohl personell als auch mit Know-How bei der Umsetzung unterstützen. Unser junges Team arbeitet dabei auf Augenhöhe mit den Jugendlichen zusammen, die die Federführung im gesamten Projekt übernehmen werden. So werden sie bestmöglich mit kommunalpolitischen Abläufen vertraut gemacht und übernehmen schon früh Verantwortung.
Welche Erfahrungen habt ihr bisher bei der Zusammenarbeit mit Kommunen gemacht? Was klappt gut, wo seht ihr Veränderungsbedarf?
Die Erfahrungen sind gemischt. Viele kommunale Vertreter:innen finden mehr und vor allem neue Möglichkeiten der Jugendbeteiligung zunächst grundsätzlich fördernswert. Unser Konzept begeistert vor allem durch die zielgruppengerechten und innovativen Elemente. Sobald aber konkrete Schritte zur ersten Umsetzung überlegt werden sollen, stoßen wir auf Zurückhaltung und Zögern. Die Hindernisse finden sich vor allem in größeren Kommunen und lassen sich grob in zwei Dimensionen unterteilen: materiell und institutionell. Materiell, weil den Kommunen die nötigen finanziellen Mittel fehlen, beziehungsweise diese durch die Corona-Pandemie anders priorisiert werden müssen. Institutionell, da die Implementierung von Youth Lead the Change an der Schnittstelle zahlreicher Akteur:innen ansetzt. Viele Poltiker:innen, Verwaltungsmitarbeiter:innen und Jugendorganisationen müssen überzeugt werden, was einen äußerst aufwendigen und langwierigen Prozess via Anträgen, Vorstellungen, Beratungen, Prüfungen und Zustimmungen bedarf. Gerade bei diesem Bottom-up-Prozess fehlt es an konkreten Ansprechpersonen und Zugängen zu den Gremien, die die nötigen Entscheidungen treffen. Zudem sind Verantwortlichkeiten meist uneindeutig und die Verwaltung in vielen Kommunen stark überlastet, so dass Projekte aus der Zivilgesellschaft aufgeschoben werden. Ein:e “Verwaltungslot:in”, angestellt bei der Stadt, wäre ideal, um innovative Ideen der Zivilgesellschaft mit der Stadt zusammenzubringen.
Sehr positive Erfahrungen machen wir, wenn zum Bottom-up-Prozess ein Top-down-Zugang hinzu kommt. Wenn also der oder die Bürgermeister:in in der Kommune von Youth Lead the Change überzeugt ist und sich für eine Pilotierung in der Stadt einsetzt, erscheinen die Hindernisse vergleichsweise schneller überwindbar. Gleichzeitig erachten wir eine Can-do-Mentalität der Beteiligten als wertvoll. Also die Überzeugung, dass Youth Lead the Change eine spannende Komponente für mehr Jugendbeteiligung ist und trotz möglicher Herausforderungen die Umsetzung zuversichtlich und mit Vorfreude angegangen wird. Hierzu zählt auch der Mut, neue Formate auszuprobieren und aus den anschließenden Erkenntnissen den Prozess zu adaptieren.
Wieso setzt ihr euch so stark ehrenamtlich für Kinder- und Jugendbeteiligung ein? Warum lohnt es sich, sich für das Thema stark zu machen?
Die Herausforderungen unserer Zeit fordern uns alle. Trotzdem haben vor allem Jugendliche das Gefühl, bei maßgeblichen Entscheidungen, die ihre Zukunft betreffen, nicht mitreden und nicht mitwirken zu dürfen. Dieser Frustration wollen wir entgegenwirken und ihnen die Möglichkeit geben, sich aktiv in die Gestaltung ihrer Stadt einzubringen. Sie kennen die heutigen Schwierigkeiten und wollen sich mit kreativen Projekten für ihre Lösungen einsetzen. Umso mehr ist es an der Zeit, dass wir Jugendlichen zutrauen, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen und sie authentisch mitgestalten zu lassen. Der Antrieb unserer Arbeit ist dabei die Überzeugung, dass besonders für die junge Generation Demokratie erlebbar und erfahrbar sein soll, damit sie sich auch in Zukunft kommunalpolitisch und gesellschaftlich engagiert. Besonders wenn es schwierig ist für uns voranzukommen, besinnen wir uns auf unsere Erlebnisse und Begegnungen in Boston zurück. Die dortigen Jugendlichen haben uns mit ihrer Leidenschaft und ihrem Engagement für die Stadt inspiriert. Sie erzählten uns, wie sie durch das Projekt begeistert wurden, sich für ihre Community stark zu machen. Diese Wirkung motiviert uns, auch weiterhin in Deutschland am Ball zu bleiben.
Welche Erfahrung habt ihr bisher, was das Thema Wirkungsorientierung und Kommunen angeht?
Die Wirkungstreppe ist fester Bestandteil unseres Pitch Decks. Insbesondere verweisen wir hier auf die Erfahrungen in Boston. Eine dortige Begleitstudie fand heraus, dass die Wahlbeteiligung der Jugendlichen und ihre Identifikation mit der Community durch Youth Lead the Change stieg. Diese positiven Effekte wurden auch bei Jugendlichen aus sozial benachteiligten Stadtteilen erwirkt. In unseren Gesprächen mit den Kommunen sprachen wir bislang jedoch selten über Wirkung. Der Fokus unseres Austauschs lag stets auf den Hürden und potenziellen Fallstricken, die überwunden werden mussten, um das Projekt überhaupt erst umzusetzen. Je konkreter die Gespräche werden, umso mehr überlegen wir gemeinsam mit der Stadt, wie Youth Lead the Change in vorhandene Strukturen integriert werden kann und welcher zusätzliche Nutzen daraus entstehen wird. Hierbei betonen wir die Wirkung eines nachhaltigen Beteiligungsformats, das es den Jugendlichen ermöglicht, ihre Stimme hörbar, sichtbar und erlebbar zu machen. Daher ist es uns ein großes Anliegen, dass wir in Zukunft mindestens eine Person im Team haben, die sich um Wirkungsplanung, ‑messung und ‑evaluierung kümmert.
Wie geht es weiter? Was habt ihr zukünftig vor?
Zur Erreichung unseres großen Ziels, Youth Lead the Change zum ersten Mal in einer deutschen Kommune umzusetzen, sind wir mit zwei Städten im konkreten Austausch. Aus einer hoffentlich baldigen Projektphase werden wir sicherlich zahlreiche Erkenntnisse ziehen, um das Projekt zu adaptieren. Wobei das Feedback aller Beteiligten, allen voran das der Jugendlichen, uns weiterhelfen wird, den Ablauf auf ihre Bedürfnisse hin zu verfeinern. Gleichzeitig erhoffen wir uns langfristig eine Wirkung wie in Boston: spannende Projekte, schönere Stadtteile zum Nutzen aller und begeisterte Jugendliche. Idealerweise entfalten wir so eine “Strahlkraft” auf andere Kommunen und motivieren sie dazu, auch ihre Jugendlichen durch einen Jugendhaushalt mitgestalten zu lassen. Das Projekt lässt sich dabei beliebig skalieren und übertragen – von kleinen auf große Städte, von Schulen auf Gemeinden, von einzelnen Stadtteilen auf die ganze Stadt und so weiter. Mit voller Vorfreude, Motivation und Tatendrang blicken wir auf die bevorstehende Monate.
Mehr Informationen über Youth Lead the Change und Kontakt-Möglichkeiten zum Team finden Sie unter https://ylc-germany.de.